Geteiltes Echo in Deutschland auf Beschlüsse des Brüsseler Marathongipfels


Opposition enttäuscht über Kompromiss – Industrie erleichtert über Einigung

Erleichterung bei den Koalitionsfraktionen, Enttäuschung und Warnungen bei der Opposition: Parteien und Verbände in Deutschland haben die Beschlüsse des EU-Gipfels am Dienstag als historisch bezeichnet – sie kommen in der Bewertung des 1,8 Billionen Euro schweren Finanzpakets aber zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen.

Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch beklagte eine soziale Schieflage. Zur Finanzierung hätten Europas “Superreiche” herangezogen werden sollen, sagte er der “Welt”. “Europa wird ungerechter und ungleicher, wenn Europas Multimillionäre und Milliardäre keinen relevanten Beitrag zur Finanzierung der Hilfsfonds leisten müssen.”

Die Grünen zeigten sich ebenfalls enttäuscht. Die Kompromisse seien zwar “dringend nötig” gewesen, hätten aber nur um einen “hohen Preis” erzielt werden können, kritisierte ihre Europaexpertin Franziska Brantner. Sie beklagte “massive Kürzungen gerade bei den modernen Budgets für Forschung und Klima”, hohe Rabatte für die Gruppe der ‘Sparsamen’ und zu viele Zugeständnisse gegenüber Ungarn in der Frage der Rechtsstaatlichkeit.

Spitzenpolitiker der AfD kritisierten es als “Tabubruch”, dass die EU nun für das Corona-Krisenpaket gemeinsame Anleihen in großem Umfang aufnehme. “Angela Merkel vollendet die Schulden- und Transferunion auf Kosten deutscher Steuerzahler und treibt so unser Land in den Ruin”, erklärte AfD-Chef Jörg Meuthen.

Die FDP übte Kritik an der Verhandlungsführung der Bundesregierung. Die als die “sparsamen Fünf” bekannten Länder Österreich, die Niederlande, Schweden, Dänemark und Finnland hätten auf dem Gipfel “die Rolle gespielt, die eigentlich Deutschland hätte einnehmen müssen”, sagte der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff zu AFP. “Europa muss den ‘sparsamen Fünf’ dankbar sein.”

Vertreter der Koalitionsparteien CDU, SPD und CSU begrüßten den Brüsseler Kompromiss. Lob kam insbesondere auch von den Unionsparteien, die früher einer gemeinschaftlichen Schuldenaufnahme sehr kritisch gegenübergestanden hatten. CSU-Chef Markus Söder sprach von einem “starken Signal: Europa bleibt auch in der Krise zusammen”. Ähnlich äußerte sich CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, er mahnte zugleich aber eine zielgerichtete Verwendung der Hilfsgelder an.

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) erklärte: “Das ist ein historisches Paket für ein starkes Europa.” Die Unionsfinanz- und -haushaltsexperten Andreas Jung und Eckhardt Rehberg hoben die Rolle von Kanzlerin Angela Merkel (alle CDU) hervor: Sie habe mit den Beschlüssen “ein Ausrufezeichen zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft” gesetzt.

SPD-Vizefraktionschef Achim Post sprach von einem “historischen Erfolg”. Die EU-Länder hätten eine Bereitschaft zum Kompromiss gezeigt, der nun auch bei den Verhandlungen zur konkreten Ausgestaltung der Investitionszuschüsse und dem Bekenntnis zu den europäischen Werten der Rechtsstaatlichkeit zum Tragen kommen müsse.

Erleichtert über den Kompromiss zeigte sich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). “Die vereinbarten Zuschüsse von 390 Milliarden Euro treiben den wirtschaftlichen Wiederaufbau auf unserem Kontinent durch gemeinschaftlich finanzierte Maßnahmen erheblich voran”, erklärte BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang.

Der Sozialverband Deutschland forderte, dass mit dem Hilfspaket “auch die soziale Infrastruktur” in den Mitgliedsstaaten gestärkt werde. Entscheidend sei die Einführung einer EU-weiten Arbeitslosenrückversicherung, erklärte SoVD-Vizepräsidentin Ursula Engelen-Kefer.

Ökonomen hoben den historischen Charakter der Gipfelbeschlüsse hervor. Die gemeinsame Schuldenaufnahme sei ein “historischer Paradigmenwechsel”, erklärte Gabriel Felbermayr vom Institut für Wirtschaftsforschung (IfW) in Kiel. Die Tilgung der Schulden werde “das EU-Budget über Jahrzehnte belasten”, für Deutschland werde “die EU-Mitgliedschaft teurer”.

Clemens Fuest, der Präsident des ifo-Instituts, erklärte, die EU gebe “einen Vertrauensvorschuss an die Empfängerländer”. Die wirtschaftliche Erholung werde aber “nur funktionieren, wenn die betroffenen Länder selbst erhebliche Reformanstrengungen unternehmen”.

by JOHN THYS

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