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Erneut Tote bei regierungskritischen Protesten in Kolumbien

Regierung schickt Militär in drittgrößte Stadt Cali

Im seit Wochen von massiven Protesten gegen die Regierung erschütterten Kolumbien spitzt sich die Lage immer weiter zu. In der drittgrößten Stadt des Landes Cali wurden am Freitag erneut drei Menschen bei Zusammenstößen getötet, wie der Bürgermeister der Stadt, Jorge Iván Ospina, bekanntgab. Nach einer Sitzung mit Sicherheitsvertretern kündigte Präsident Iván Duque die Entsendung von Soldaten nach Cali an. Das Auswärtige Amt gab eine bedingte Reisewarnung aus.

Seit Beginn der Proteste vor einem Monat wurden nach Behördenangaben 49 Menschen getötet, darunter zwei Polizisten. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch spricht von mehr als 60 Toten. Menschenrechtler werfen den kolumbianischen Sicherheitskräften unverhältnismäßige Gewalt gegen die Demonstranten vor. Mehr als 120 Menschen werden seit Beginn der Proteste vermisst, hinzu kommen etwa 2000 Verletzte.

Die drei Todesfälle in Cali hätten sich bei Zusammenstößen zwischen "Blockierern" sowie Menschen ereignet, die diese Blockaden hätten durchbrechen wollen, sagte Ospina. Er sprach von einer "Situation des Todes und des Schmerzes". "Wir dürfen nicht der Versuchung der Gewalt und des Todes anheimfallen", appellierte er.

Auf Videoaufnahmen waren ein in einer Blutlache liegender Mann sowie ein weiterer Mann mit einer Schusswaffe zu sehen, der von einer Gruppe Menschen attackiert wurde.

Präsident Duque kündigte die Entsendung eines militärischen Großaufgebots nach Cali an. "Heute Nacht beginnt der maximale Einsatz militärischer Unterstützung für die Nationalpolizei in Cali", erklärte er.

Das Auswärtige Amt in Berlin gab angesichts der Proteste und der Entsendung von Militär in die Provinz Valle del Cauca, deren Hauptstadt Cali ist, eine bedingte Reisewarnung für Kolumbien aus. Die landesweiten Proteste seien "teilweise mit massiv gewalttätigen Ausschreitungen verbunden", erklärte das Auswärtige Amt am Samstag. Weitere Eskalationen seien nicht auszuschließen, ein Ende der Unruhen bisher nicht absehbar.

In Kolumbien gehen seit Wochen tausende Menschen aus Wut über die Gesundheits-, Sicherheits- und Bildungspolitik der Regierung auf die Straße. Ausgelöst wurden die Proteste durch Pläne für eine Steuerreform, die inzwischen zurückgezogen wurde. Die Proteste richten sich nun aber allgemein gegen die Regierung. Während die landesweiten Proteste tagsüber meist friedlich verlaufen, schlagen sie am Abend oftmals in Gewalt um. Betroffen sind vor allem die Großstädte des Landes.

Die Demonstranten fordern bessere Arbeitsbedingungen, eine Reform des Rentensystems, einen besseren Schutz von Menschenrechtsaktivisten und die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens mit der Rebellengruppe Farc. Die Proteste sind die blutigsten seit dem Friedensabkommen mit der Farc im Jahr 2016.

Bereits 2019 hatte es große Proteste vor allem junger Menschen gegen Duque gegeben. Während der Corona-Pandemie kamen die Proteste zum Erliegen. Allerdings hat sich die wirtschaftliche Situation vieler Kolumbianer während der Pandemie noch verschärft: 42,5 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.

Bei der Armutsbekämpfung sei "mindestens ein Jahrzehnt verloren" gegangen, sagt die Politologin Sandra Borda. "Es gibt einen aktiven Teil der Gesellschaft, der seit langem von der Politik, der Arbeitswelt und dem Bildungssystem ausgeschlossen ist und der dies nun satt hat." Die Menschen, die nun auf der Straße seien, repräsentierten diesen Teil der Bevölkerung.

Die Gewalt bei den Protesten war auch Thema eines Treffens von US-Außenminister Antony Blinken mit der kolumbianischen Vizepräsidentin Marta Lucía Ramírez am Freitag in Washington. Nach Angaben des US-Außenamtssprechers Ned Price gab Blinken bei dem Treffen seine "Besorgnis" und sein "Beileid" für die Todesfälle während der Proteste zum Ausdruck. Auch habe er das "unbestreitbare Recht der Bürger zu friedlichem Protest" hervorgehoben.

by Von Hector Velasco