Im Justizstreit mit Polen will EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Vorrang des Europa-Rechts mit allen Mitteln verteidigen. Die Kommission werde in Kürze "über weitere Schritte" gegen Warschau entscheiden, kündigte sie am Freitag in Brüssel an. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) rief Polen auf, die EU-Regeln "voll und ganz umzusetzen".
Von der Leyen äußerte sich "tief besorgt" über das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom Donnerstag, wonach nationales Recht in Polen Vorrang vor EU-Recht haben soll. Das Gericht hatte zugleich Teile der EU-Verträge für unvereinbar mit der nationalen Verfassung erklärt.
Von der Leyen betonte dagegen: "EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht, auch vor Verfassungsvorschriften." Die Kommission als Hüterin der Verträge werde alles tun, um die Gründungsprinzipien der EU aufrecht zu erhalten.
Die Kommission hat in dem Justizstreit bereits mehrere Verfahren gegen Polen angestrengt. Als Druckmittel hält sie bisher insgesamt 57 Milliarden Euro aus dem Corona-Hilfsfonds für Polen zurück. Wegen Missachtung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) droht Warschau zudem ein Zwangsgeld von täglich mehreren Millionen Euro.
Bundesaußenminister Maas sagte Brüssel in dem Streit volle Unterstützung zu. Die EU-Mitgliedschaft bedeute, "dass wir uns an gemeinsame Regeln halten, die das Fundament der Europäischen Union bilden – mit allen Konsequenzen", sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Die EU-Gründerländer Frankreich und Luxemburg reagierten entsetzt auf das polnische Urteil. Der französische Europa-Staatssekretär Clément Beaune sprach in Paris von einem "Angriff auf die EU". Der luxemburgische Außenminister Asselborn warf Polen vor, "mit dem Feuer" zu spielen. Warschau müsse bewusst sein, dass es mit der EU "nicht nur juristisch, sondern auch politisch zu einem Bruch kommen" könnte.
Der Deutsche Richterbund (DRB) erklärte, die Entscheidung lege "die Axt an die Säulen" der EU. Polen stelle damit zudem das Prinzip der Gewaltenteilung in Frage, erklärten die DRB-Vorsitzenden Barbara Stockinger und Joachim Lüblinghoff in Berlin.
Auch die EU-Kommission wirft der rechtsnationalistischen Regierung in Polen vor, die Unabhängigkeit der Gerichte und die Gewaltenteilung zu untergraben. Das polnische Verfassungsgericht ist nach Brüsseler Auffassung inzwischen ebenfalls mit linientreuen Richtern besetzt.
Die polnischen Verfassungsrichter bemängelten in ihrem Urteil unter anderem Artikel eins des EU-Vertrags von Lissabon, nach dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union "Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen". Das Gericht folgte damit der Auffassung von Regierungschef Mateusz Morawiecki. Er hatte das Urteil beantragt, um die EU-Gerichtsurteile gegen die umstrittenen Justizreformen de facto für ungültig erklären zu lassen.
Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) im Europaparlament warnte erneut vor einem "Polexit", also einem polnischen EU-Austritt. Regierungschef Morawiecki bekräftigte allerdings, Polen wolle EU-Mitglied bleiben. "Polens Platz ist in der europäischen Familie der Nationen und wird es auch bleiben", erklärte er auf Facebook. Nach Umfragen unterstützen dies rund 80 Prozent der Bevölkerung.
Polen gehört seit 2004 der EU an. Seit 2015 regiert dort die rechtsnationalistische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS).
by Von Stephanie LOB